Was gibt es noch, um den „perfekten“ Schuh zu erreichen

  • Mal angenommen, ich bin Schuhmacher und will den perfekten rahmengenähten Schuh herstellen. Zeit spielt für mich keine Rolle.

    Ich leiste den Schuh von Hand ein. Dann ist er noch handeingestochen und von Hand gedoppelt, hat das beste Oberleder und die Nähte haben einen sehr kleinen Stichabstand. Die Verstärkungen zwischen Oberleder und Futter sind aus Leder, Überstemme ist vorhanden, die Ledersohle aus der Gerberei Martin. Die Quartiere sind von der Höhe her richtig.

    Was würde für den perfekten Schuh noch fehlen? Ich meine, der Schuhmacher Patrick Frei bietet ja mit seinen „divine shoes“ Schuhe jenseits der 10.000 € Grenze an. Der Zeitaufwand für die Herstellung ist entsprechend sehr hoch. Doch irgendwohin müsste er ja seine Arbeitskraft bei solchen Schuhen ja hineinstecken, sobald die „Basics“ stimmen.

  • Der Leisten, der Leisten!
    Arbeitet der Schuhmacher mit einem ersten, transparenten Probeschuh, um den ersten Leisten zu korrigieren?
    Nach der Anprobe des wochenlang getragenen Probeschuhs - macht er die finalen Schuhe auf dem erneut angepassten Leisten oder
    schnitzt er den Leisten selbst neu oder lässt er ihn maschinell kopieren, um darauf dann die Maßschuhe oder ggf. ein zweites Paar Probeschuhe zu machen?
    Wie macht er jeweils die Probeschuhe - maschinell genäht oder von Hand eingestochen?

    Wie lange trägt der Kunde/Besteller jeweils die Maßschuhe und wie umfangreich sind die Korrekturen von Probeschuh zu Probeschuh?

    Daneben kann sich der Schuhmacher mit der Gestaltung der Laufsohle (und ggf. der Brandsohle) wie deren Rundung unter den Zehenballen beschäftigen...
    Ob es nun immer ein Fiddle bevelled waist im Bereich des Stegs sein muss ist die Frage wie teuer die Neubesohlung kommen darf und
    wie stark der Kunde die Laufsohle aufgrund seiner Gangart und Fußstellung beim Aufsetzen abnützt womit wir wieder bei der Gestaltung der Brandsohle
    und ggf. der Laufsohle wären.

    Die immer kürzer werdenden Einstichabstände der Sohlennaht (und ggf. der Rahmennaht) halte ich selbst für Internetgebrabbel,
    da sie niemanden einen praktischen Nutzen bringen außer den Schuh-Theoretikern, die meist keine solchen Maßschuhe tragen.

    Das sind nur mal meine ersten Gedanken worin man als Schuhmacher seine Zeit zur Erstellung des perfekten Maßschuhs investieren kann,
    immer vorausgesetzt, dass der Kunde dieselbe Strumpfstärke im Sommer wie auch im Winter trägt, denn ansonsten müsste man zwei Paar Schuhe für ihn machen.

  • Der Prozess für "Den perfekten Schuh erreichen" sieht /sah für mich so aus: Ich fang mit nem klassischen schwarzen Oxford in maschinengenähter Ausführung an und sammle mit ihnen Erfahrungen über ein ganzes Jahr hinfort - bei meinen ersten Oxfords von Alfio Bruschi war es so, dass wir zwar die Passform sogar mit zwei Probeschuhen ausgiebig getestet hatten, aber den perfekten Fit noch nicht gefunden hatten. Der Fit war natürlich besser als 90% von dem was ich bei ähnlichem Zeitaufwand im stationären Handel gefunden hätte, aber halt noch nicht perfekt. Das lag aber ausschließlich an mir selbst, denn meine Vorstellung von "perfekt" hat sich dann immer weiter gewandelt und wandelt sich auch noch fortlaufend. Gleichzeitig konnte ich anatomische Besonderheiten (Mein breiter Ballen, meine hohen Zehen, Gangart, Fußstellung) bewusster wahrnehmen, z.B. macht allein schon die Fersensprengung / Absatzhöhe einen Riesenunterschied für den spezifischen Komfort für verschiedene Anwendungen. Mir ist etwa irgendwann klargeworden, dass höhere Absätze besser für meine Körperhaltung allgemein und speziell dann ihre Vorteile ausspielen wenn ich länger stehe als gehe. Flachere Fersensprengung und Wedge Sole bedeutet für mich mehr Komfort beim Gehen. Man darf auch nicht glauben, dass ein einziger Leisten für alle Zwecke ausreicht. Wenn man den "perfekten" Leisten für den z.B. klassischen Herrenhalbschuh hat, ist das natürlich schon ein guter Ausgangspunkt für einen Loafer-Leisten oder für einen Stiefelleisten.

    Dazu kommt noch das Drumherum und das Styling: welche Socken, welche Hosen in welchen klimatischen Bedingungen passen am besten zu ihnen, wie oft kann ich sie wirklich tragen, wann komm ich mir damit overdressed oder underdressed vor und warum und was müsste vom Style her vielleicht an ihnen geändert werden. Somit überleg ich mir dann ausgehend von meinem persönlichen Empfinden die nächsten Schuhe und hangel mich dann von Schuh zu Schuh.

    Ich würde den Fokus wirklich, wie Urban schon oben zuallererst gesagt hat, auf den Leisten und damit vorrangig auf den Fit setzen und weniger auf die Ausführung und Machart - was helfen dir denn "divine shoes" wenn sie sich vom Stil her nur mittelmäßig kompatibel / alltagstauglich erweisen (gerade bei Frei ist ja sein Anspruch, dass er die Schuhe für den Träger findet, welche am besten seinen individuellen Stil ausdrücken), oder nicht so bequem wie du sie dir vorgestellt hast? Selbst mit einem Budget von 10.000 Euro halte ich es ohne vorhergehende Erfahrungen mit bespoke Schuhen für nahezu ausgeschlossen, dass dir die Schuhe länger als vielleicht drei Monate perfekt vorkommen. Das geht nur allmählich mit einem hohen Maß an Reflektion über die Zeit. Wenn ich gefragt werde, wie viel meine Schuhe gekostet haben, sage ich immer "Zeit".

  • Das hast Du sehr gut beschrieben!
    Man merkt erst mit der Zeit was den Schuhen noch fehlt, um als optimal betrachtet zu werden.

    Den Hinweis, dass man die gewöhnlichen Strümpfe bei der Anprobe tragen sollte, habe ich gestern auch auf den Seiten von Ophtee aus Japan gesehen;
    man kann das als Sommer- und Winterschuhe interpretieren oder bei Merino-Strümpfen als Ganzjahresschuhe.

    Gutes Gelingen!

  • Danke für die regen Antworten! Total verständlich, dass hier die Passform betont wird - kam sie doch in meiner initialen Aufzählung zu kurz. Die Passform wird auch das wichtigste sein, worauf die allermeisten Massschuhmacher schauen werden. Und auch das Styling drum herum finde ich nachvollziehend erklärt, dass die Schuhe sozusagen im persönlichen Kontext einfach passen müssen.

    Mich hat tatsächlich mehr die Ausführung interessiert und die verschiedenen (sinnvollen) Boni, die man bei der Herstellung eines „perfekten“ Schuhs drauf packen kann. Bei Patrick Frei und seinen „Divine Shoes“ hat sich das für mich so angehört, dass man nahezu beliebig optimieren kann, was über die Passform nochmal hinausgeht. Deshalb habe ich mir die Frage gestellt, was da noch alles kommen kann, zumal sich der Preis für ein Paar „göttlicher“ Schuhe bei Frei sich enorm erhöht - für anscheinend unwesentliche Details. Das ist irgendwie seltsam: Bei Silvano Lattanzi würde ich meinen, dass ich allein für die Marke einen enormen Aufschlag zahlen muss. Aber „Patrick Frei“ steht ja auch in seinen „normalen“ Schuhen drin.

    Ich entnehme euren Antworten, das dies trotzdem dann wohl eher eine reine Marketing Aktion ist und so viel Optimierungspotential nach oben über die Passform hinaus gibt es gar nicht.

  • Silvano Lattanzi ist sehr teuer geworden.

    Noch ein Tipp, hoffentlich nicht der letzte:
    Die extrem ausgeführten Sohlen haben natürlich auch den Nachteil, dass ihre Erneuerung - auf Maßschuhe eine neue Halbsohle aufkleben? - extrem teuer ist.
    Man sollte sich das also vorher zweimal überlegen ob es denn unbedingt "eine Siegersohle der Championships in London" sein muss,
    nebst Absatz usw..

    Die beste Art Ledersohlen anzudoppeln ist übrigens die versenkte Sohlennaht und gerade nicht channel stitch.
    Sie ist nur ziemlich unbekannt, da sie nur noch von wenigen Schuhmachern beherrscht wird aber kaum nachgefragt.

  • Danke für den Tipp. Ist die versenkte Rahmennaht dann eher eine Spielerei? Bei der versenkten Sohlennaht kann ich mir die Vorteile hingegen gut vorstellen: Die Naht ist besser geschützt und die Stelle ist robuster.

    Ist closed channel sole stitching quasi die open Variante davon plus der Zusatz, dass eine Lederfüllung drangeklebt wird, die dann relativ leicht wieder abreißen kann?

  • Die "versenkte", also unsichtbare, Rahmen(sohlen)naht gibt es auch; dabei wird der Rahmen der Länge nach schräg eingeschnitten, die so entstandene Lippe hochgeklappt, ausgeräumt, von Hand gedoppelt , die Lippe herunter geklappt und verklebt, so dass die Sohlennaht von oben nicht mehr sichtbar ist.

    Analog kann der Schuhmacher auch die Sohle gestalten - dann verschwindet die Naht komplett.

    Das Problem dabei ist, dass die Lippe der Sohle ausbrechen kann, was nicht so schön aussieht.

    Deswegen ist die versenkte Sohlennaht, wie du schon schreibst, besser.

    Die Naht wird nur ganz selten im Rahmen versenkt, da dies nur wenige Schuhmacher beherrschen und ein typisches Merkmal für "rahmengenähte" Schuhe fehlen würde.

    Die Rahmennaht liegt tatsächlich unsichtbar im Schuh und verbindet den Rahmen mit der Brandsohle resp. bei Goodyear mit dem Gemband.

    Nur bei Blake Rapid mit Rahmen ist die Rahmennaht im Fußraum sichtbar. Sie sieht dabei genau so aus wie die Zwischensohlennaht = eine Zwischen-/Mittelsohle statt eines Rahmens.

    Von außen kann man nur schwer sehen ob die BR mit Rahmen oder mit einer Zwischensohle ausgeführt sind, die Stärke macht machts, denn Sohlen sind dicker.

    Einmal editiert, zuletzt von urban (28. August 2023 um 15:18)

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