Die Kunst der Maßschuhmacher

  • Durch Zufall habe ich das Buch der Familie Seidich über den Schaftbau von Schuhen entdeckt.
    Das hat mich dazu verleitet über einen Artikel über Maßschuhmacher nachzudenken, denn es gibt verschiedene Klassen der Schuhmacherzunft,
    solche, die die Schuhe (selbst!) komplett in der eigenen Werkstatt machen, angefangen beim Schnitzen des Leistens plus Korrekturen, die Probeschuhe, die Schuhschäfte
    bis hin zum fertigen Paar Maßschuhe.
    Und es gibt andere Maßschuhmacher, die die Holzleisten außer Haus anfertigen lassen, die Schuhschäfte ebenfalls, bis hin zu Outworkern für die Maßschuhe,
    die unter ihrem meist sehr berühmten Namen den Kunden verkauft werden.

    Da ich aber nicht die geringste Lust dazu verspüre mich von irgendwelchen Shoe-Fanboys anmachen zu lassen, die bedingungslos
    an das Schwarz-auf-Weiß im Internet vertrauen, so wie es meine OMA immer sagte: Da steht es Schwarz auf Weiß in der Zeitung!,
    lasse ich das Thema, jetzt = hier und heute, außen vor, denn in der realen Welt werden die Damen und Herren, die das Geld dafür auszugeben bereit sind,
    schon wissen wo und wie sie sich informieren, um den Maßschuhmacher ihres Vertrauens zu finden.

    Im Internet, der Welt des Scheins, gibt es halt eben vieles, was zu sein scheint aber bei weitem nicht so ist wie es scheint, aber nicht jeder das für wahr haben will:
    Die Shoe-Fanboys wie zum Beispiel diejenigen, die noch nie kapieren wollten warum ich keine Shell-Cordovan-Schuhe mehr haben will,
    denn sie sehen getragen einfach nur zerknautscht aus und man trägt ja schließlich kein Schild um den Hals, um jedem Passanten und Betrachter zu erklären
    welch besonderes, nobles, und vor allen Dingen, exklusives, teures "Leder" man da eigentlich spazieren trägt.
    Über die Video-Fanboys, die sich jeden Tag zig Reels und Videos ihrer Angebetenen anschauen ohne tatsächlich etwas zu sehen oder zu bemerken,
    schreibe ich besser nichts, sonst fangen die tatsächlich noch an zu hupen.

    Und sei dieser kurze Artikel auch nur dazu gut sie, die Interessenten, auf die unterschiedlichen Maßschuhmacher und ihre Arbeit hinzuweisen.

    P.S.
    Ich verkaufe Schuh- und Lederpflege.

    5 Mal editiert, zuletzt von urban (4. Juni 2024 um 13:29)

  • Nach dem Exkurs über die Eigenheiten des Internets und vieler seiner Nutzer geht's wieder zurück zum verheißungsvollen Thema.
    Später mehr zu den Unterschieden - :confusion:

  • Die Kunst des Maßschuhmachers besteht darin, die beiden Füße optimal im Stand und in der Bewegung zu betten
    (mit Unterstützung des Fußgewölbes) und
    diese möglichst elegant zu verkleiden, abgesehen von speziellen Kundenwünschen, und
    dabei die anatomischen Besonderheiten der Füße zu berücksichtigen aber zugleich möglichst gut zu kaschieren.

    Dabei berücksichtigt er u.a. die Fußstellung, den Gang mit der typischen Schrittweite und die Größe des Kunden
    (nebst dessen Fußerkrankungen).

    Ein paar Beispiele aus Deutschland, die absolut keinerlei Wertung enthalten, und beim Betrachten bitte den Aspekt der Maßschuhe beachten,
    denn ein Paar ist offensichtlich für einen Kunden mit ziemlich breiten Füßen!

    Ryota Hayafuji, Japan-Deutschland


    Klemann Shoes, Deutschland mit umfangreichen Erfahrungen in England


    Korbinian Ludwig Heß, Österreich - Deutschland


    Mary Mack, Deutschland

    Einmal editiert, zuletzt von urban (6. Juni 2024 um 13:41)

  • Das Thema ufert mehr aus als ich ursprünglich dachte - das wird noch lustig!

    Auf der Suche nach Bildmaterial habe ich Maßschuhe mit einem optisch wie ein Bevelled Waist aussehenden Gelenk entdeckt,
    dabei wurde lediglich die Laufsohle vor dem Absatz entsprechend ausgeschnitten, so dass dort der typische Versatz entsteht,
    der von der umgebogenen Laufsohle herrührt.
    Ein anderer "Maßschuhmacher" schnitt an einem ungetragenen Probeschuh, eigentlich dann ein Anprobierschuh, die komplette Ferse weg,
    um zu sehen wie die Ferse des Schuhbestellers zu ... ja zu was eigentlich passt?
    Und dann findet man Maßschuhe mit Fiddle Bevelled Waist, die eine getunnelte Sohlennaht aufweisen,
    aber das den Nähkanal bedeckende Sohlenleder nur sehr dünn ist und die Laufsohle sehr flach gehalten war;
    nur eine Frage der Zeit bis sie wieder in die Werkstatt müssen, was dann mit der Zeit teuer wird.

    Bis habe ich leider noch kein Foto einer versenkten Sohlennaht gefunden, kann aber noch kommen.

    Nein, die bisher gezeigten Schuhe haben damit nichts zu tun.
    Das nächste Land ist Italien - da fällt es wirklich nicht so leicht die Spreu vom Weizen zu trennen, handgemachte Schuhe finden sich dort zuhauf.

  • image1_140x.png

    American Express
    rivolta1883.com

    Rivolta in Mailand benutzt 3D-Scanner zur Herstellung von Maßschuhen.

    Risch_Shoes_Logo_6013e110-092b-48a6-a432-7609c6d23e8f.png

    Einen sehr ähnlichen Ansatz benutzt Risch Schuhe in Zürich: https://risch-shoes.ch/

    Eine Einführung findet man bei:

    Orthopädischer 3D-Fußscanner
    Der orthopädische 3D-Fußscanner von pedcad bietet hochwertige 3D-Scans sowie einen 2D-Scan in Graustufen zur direkten Verarbeitung der Messdaten für mehr…
    www.pedcad.de

    Unter Kuriositäten aus der Welt der Schuhe und deren Pflege findet man einige Anmerkungen zu der Gleichung: Schuhe + Maße = Maßschuhe

    Schuhe + Maße - Es kommt drauf an was man draus macht!

    urban
    4. Oktober 2014 um 18:55

    Gemein ist der Leistenerstellung und Schuhmacherei via 3D Scanner und 3D-Drucker, dass diese Methode so gut wie gar nicht von Maßschuhmachern
    aber oft von Orthopädieschuhmachern verwendet wird.

    Maßschuhmacher nähen, eigentlich doppeln, ihre Schuhe komplett von Hand - Orthopädieschuhmacher kleben sie meist und führen die Nähte mit der Maschine aus.
    Maßschuhmacher machen elegante, handwerkliche Schuhe - bei Orthopädieschuhmachern sieht man den fertigen Schuhen ihre Herkunft oft an.


    Terry Moore + Emiko Matsuda

  • In diesem Video sieht man, dass das Vorgehen der orthopädischen Schuhmacher auf den erste Blick nicht sonderlich stark
    von dem eines Maßschuhmachers unterscheidet - beide nehmen die Fußmaße auf.
    In diesem Video wird noch ohne den transparenten Passschuh gearbeitet.


    Das Erstellen bzw. Schnitzen eines Holzleistens unterscheidet sich jedoch schon stark:
    Der orthopädische Schuhmacher ist darauf bedacht eine statische Fußbettung zu bauen, um den Fuß (die Füße) im Stand zu betten = das Widerlager
    in Form des Bodens oder der Einlegesohle zu schaffen:
    Die Fläche, auf der der jeweilige Fuß steht, als Negativform der Fußunterseite zu schaffen, so dass die Fußsohle überall aufliegt.
    Den Schuhschaft gestaltet er nach der Anatomie des Kunden - die Spitzenzugabe, der Raum zwischen dem längsten Zeh und der Innenseite der Schuhspitze,
    fällt dabei sehr klein aus. Der orthopäische Maßschuh bewahrt als Negativform die Fußsohle, das Fußskelett, das Fußgewölbe usw.,
    er ist zumindest recht starr und nicht darauf ausgelegt dass der Fuß abrollt:
    Das sieht man sehr deutlich im ersten Video am Gang der Dame.
    Der orthopädische Maßschuh ist also mehr oder weniger ein (in sich) starrer Schuh.

    Der Maßschuhmacher konstruiert dagegen (soweit möglich = keine extremen/gravierenden anatomischen Besonderheiten vorliegen)
    eine dynamische Fußbettung, er bettet den Fuß nicht nur im Stand sondern auch auch in der Bewegung, dem Gehen und insbesondere dem Abrollen.
    Seine Schuhe sind flexibel bis sehr flexibel - je nach Anteil der Handarbeit - sie biegen sich beim Abrollen und bilden Gehfalten auf dem Schuhschaft aus.

    Weitere Details, die Kunst der Maßschuhmacher, folgen.:wink:

  • Die Orthopädieschuhmacher stellen die Funktion in den Vordergrund und weniger die Eleganz.
    Ich werde noch ein paar Zeilen später dazu schreiben damit niemand auf dumme Gedanken kommt nach dem Motto: Honi soit qui mal y pense!

  • Das Design der ersten Fotoserie kann man als dezent-elegant beschreiben, oder anders: Ganz wie jemand will.
    Die zweite Schuhserie weist ebenfalls ein typisches Design auf: Das der Guild of Craft.

    Ich werde noch 2, oder mehr, weitere Serien zeigen, die ebenfalls typisch für den jeweiligen Schuhmacher sind
    bevor ich auf die Details der Schuhe eingehe, die den handwerklichen Teil der Kunst der Schuhmacher demonstrieren.
    (Dumm nur, dass ich keine Fotos der Versenkten Sohlennaht finde - bei der Suche bin ich auf meinen eigenen Textbeitrag dazu gestolpert)

  • Emiko Matsuda
    Bonus shots w. details


    Leinengarn + Pech -> Schusterdraht

    Raspel + Leisten

    Spitzensprengung und Fersenhub

    Erstes Zwicken

    Vorbereitung für das Einbrennen des Wachses in Absatzleder und Sohlenschnitt

    Einbinden des Fersenleders und Vorbereitung des Rahmens für einen Bevelled Waist (gegurtetes Gelenk):
    Der schmalere Teil im Bereich des Gelenks - in diesem Bereich wird die ausgeschärfte Ledersohle
    auf den Rahmen umgebogen.

    2 Mal editiert, zuletzt von urban (7. Juli 2024 um 17:35)

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